Ein Beitrag von: Alexander Pollnow
Der Zeitpunkt hätte nicht schlechter sein können. Pünktlich zum chinesischen Neujahrsfest, wenn die größte jährliche Völkerwanderung beginnt, bricht ein Virus aus. Man stelle sich vor: 400 Millionen Menschen machen sich auf die Reise – mit dem Auto, der Bahn oder im Flugzeug.
Drei Milliarden Reisen innerhalb von 40 Tagen. Shanghai, die Stadt, in der ich lebe, ist traditionell eine Stadt mit hoher Inlandsimmigration. Das bedeutet, dass knapp 40 % der 24 Millionen Einwohner*innen nicht gebürtig aus Shanghai sind und ein Großteil davon zum Neujahrsfest nach Hause fährt.
Hinzu kommen die, die zu dieser Zeit in den Urlaub fliegen. Bis zu diesem Jahr gehörte ich auch dazu. In den vier Jahren, die ich jetzt in China lebe, war es mein erstes Neujahr, das ich in Shanghai verbracht habe. Ich wollte es auch einmal erlebt haben: Die Ruhe in der sonst so hektischen Stadt. Leergefegte Straßen. Doch dann überschlugen sich die Nachrichten.
Es ist nun bestätigt, dass der Coronavirus von Mensch zu Mensch übertragen werden kann. Über Nacht waren alle Mundschutzmasken ausverkauft – das gleiche galt für Vitamin-C-Brausetabletten. Im Internet kursieren Videos von Hysterien in Apotheken. Denen, die alt genug sind, kamen die Erinnerungen an das letzte Auftreten eines Virus im Jahr 2003 wieder hoch.
In Shanghai habe ich davon nicht so viel mitbekommen. Zugegeben, anfangs war ich die meiste Zeit zuhause und bin nur ab und zu mal rausgegangen. Und das erste Mal eigentlich auch nur, um mir endlich einmal die Beine vertreten zu können.
Als ich dann angefangen hatte, zu fotografieren, wurde mir bewusst, was für wahnsinnig interessante Geschichten es hier zu erzählen gibt. Ideen sind günstig, sagt man. „Rausgehen und machen“ hat sich dann doch schwieriger gestaltet als gedacht. Die Leere einzufangen und eine Geschichte zu erzählen, hat mich ganz schön gefordert.
Insgesamt wird in Shanghai sehr verantwortungsvoll damit umgegangen und es ist erstaunlich, wie schnell hier eine Infrastruktur ausgerollt wurde und Maßnahmen ergriffen worden sind, um das Ganze irgendwie einzudämmen. Sehenswürdigkeiten wurden geschlossen, Einkaufszentren haben „single entry points“ eingerichtet, an denen jedem Menschen vor dem Betreten die Körpertemperatur gemessen wird.
Es wird sehr viel Energie in Aufklärungsarbeit gesteckt. Plakate mit Informationen, wie der Virus sich verbreitet und wie man sich die Hände richtig wäscht, wurden in wenigen Tagen überall aufgehängt. Viele Läden verlangen das Tragen von Mundschutz als Einlassbedingung und haben Personal, das allen Kund*innen Fieber misst.
Der größte Schritt war wohl, den Feiertag offiziell um satte zehn Tage zu verlängern und ganze Städte unter Hausarrest zu stellen. Aber das alles hat natürlich auch seinen Preis: Man kann sich nur vage ausmalen, was das für die unzähligen Kleingeschäfte und Restaurants bedeutet.
Mittlerweile merkt man, dass das Leben wieder einkehrt. Trotzdem – oder vielleicht auch gerade deswegen – werden mehr und mehr Maßnahmen ergriffen, um den Virus weiter unter Kontrolle zu halten. Persönlich mache ich mir natürlich auch Sorgen. Hätte ich keine Freundin und zwei Haustiere, wäre ich vermutlich schon längst weg und würde alles aus sicherer Entfernung beobachten.
Wie sich die Situation nun weiterentwickelt, wird sich zeigen. Ich hoffe jedenfalls, dass ich Euch einen kleinen persönlichen – sehr subjektiven – Einblick in die aktuelle Situation geben konnte.
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