Ein Beitrag von: Vikram Kushwah
Während meines gesamten Lebens war mein Vater 35 Jahre lang Lehrer an einer staatlichen Schule im ländlichen Uttar Pradesh, einem der ärmsten Bundesstaaten Indiens. Bis zum Februar dieses Jahres war ich noch nie in seiner Schule gewesen. Meine Frau versuchte mehrmals, einen Besuch zu organisieren, aber er lehnte es jedes Mal ab.
Erst als ich ihm sagte, dass ich vor seiner Pensionierung im nächsten Jahr eine Fotostory machen wollte, verabredete er sich widerwillig zu einem Besuch. Mein Vater ist der Sohn eines Bauern, das jüngste von sechs Kindern, die die Kindheit überlebt haben. Die Schule, in der er arbeitet, hat keinen Strom und in den heißen Sommermonaten findet der Unterricht draußen unter einem großen Feigenbaum statt.
Im Frühjahr, während der Prüfungsphase, staunte ich immer, wie er die Ergebnisse in großen Prüfungsbüchern auf dem Couchtisch verteilte. Wenn er fertig war, rollte er die Bücher, die aussahen, als hätten sie die viktorianische Ära überlebt, wieder ein.
Mein Vater war 25 Jahre alt, als seine Ehe mit meiner Mutter, die erst 16 Jahre alt war, arrangiert wurde. Weniger als ein Jahr später wurde ich geboren. Als ich drei Jahre alt war, schickte mich mein Vater auf ein Internat im Himalaya-Vorland – nicht, weil er mich nicht liebte, sondern weil er ein besseres Leben für mich wollte.
Besser als das, was er für sich selbst hatte und ein besseres Leben als die Kinder in der Dorfschule, in der er unterrichtete. In den achtziger Jahren war mein Vater unglaublich fortschrittlich und zukunftsorientiert.
Er und meine Mutter hatten keine anderen Kinder, da sie wussten, dass sie sich diese Art der Ausbildung nicht für mehr als ein Kind leisten konnten. Eigentlich konnten sie es sich auch für mich nicht leisten. Sie lebten 18 Jahre lang in einer Ein-Raum-Hütte, während ich Cricket spielte und mit Diplomatensöhnen Physik studierte.
Dieses Jahr erhielt ich auf dem indischen Fest der Farben – Holi – einen Anruf von meinem Cousin, der noch immer mit seiner Mutter und seinem Vater sowie seiner Frau und seinen zwei Kindern im Stammdorf meines Vaters lebt. Er war betrunken, als er anrief.
Er fragte nach meinem Leben in Großbritannien und beklagte sich über unseren anderen Cousin, der seit unserer Kindheit vermisst wurde. Als wir auflegten, wurde mir bewusst, dass ich er hätte sein können.
Die Kinder in diesen Bildern sind schön, verspielt, vielfältig – einfach menschlich. Ihr Intellekt und ihre Talente können jedoch möglicherweise nie vollständig zum Ausdruck gebracht werden, da sie auch arm sind. Diese Kinder repräsentieren meine Familie – jedes Mitglied davon wurde in einer Schule wie dieser unterrichtet – mit Ausnahme von mir.
Es gibt dieses Klischee darüber, Fotograf zu sein – dass man gleichzeitig Teil dessen und gleichzeitig von Natur aus von dem getrennt ist, was man fotografiert. Das geringe staatliche Lehrgehalt meines Vaters verschaffte mir trotz aller Schwierigkeiten ein außergewöhnliches Leben:
Eines, in dem ich Fotograf wurde – ein Beruf, den meine Eltern noch immer nicht verstehen –, eine Ausländerin heiratete – ein anderes schwieriges Konzept für sie – und ins Ausland zog – vielleicht das Schwerste, was sie akzeptieren mussten.
Diese staatliche Schule ist das Indien, in das ich während der Schulferien nach Hause gekommen bin, während meine Klassenkameraden in den Ferien nach Dubai und Amerika gereist sind. Natürlich habe ich meinen Klassenkameraden nie erzählt, dass mein Vater an einer staatlichen Schule unterrichtet hat.
Um nicht wegen meines verarmten Hintergrunds gemobbt zu werden, log ich und sagte ihnen, er sei ein Lehrer an der Delhi Public School, die weitaus respektabler war. Als ich an seiner Schule fotografierte, wusste ich, dass es sowohl mein Indien als auch überhaupt nicht mein Indien war.
Obwohl mein Vater ein recht einfacher Mann war, wusste er, dass die Welt mehr zu bieten hatte – jenseits von schmutzigen Klassenzimmern und jahrzehntealten Lehrbüchern. Er wollte, dass ich herausfand, was da draußen war, obwohl das bedeutete, dass ich ihn immer wieder zurücklassen würde.
Doch wie auf den meisten Reisen gibt es eine Rückkehr und nachdem ich so viel von der Welt gesehen habe, wollte ich am liebsten zu ihm zurückkehren, sein Leben kennenlernen und seine Opfer verstehen.
Der Text wurde für Euch von Katja Kemnitz aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Die komplette Fotoarbeit findet Ihr auf der Webseite des Fotografen.
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